Milli Lesemaus
Oder: Das Wunder von Russee
Von Ellen Scheel
Dies ist die Geschichte von Milli Lesemaus. Ihres Zeichens, kleine Wollmaus mit großen wunderschönen Augen und einem superlangen Schwänzchen. Es wurde entschieden, dass sie ihr Leben als Lesezeichen verbringen sollte. Liebevoll gehäkelt von Gabi, der Fee der feinen Garne … (keine Wolle ist ihr zu dünn!), und weitergegeben an Ewa, eine Freundin, die nach Russee zog…
Viel Spaß beim Lesen und frohe Weihnachten!
Ewa erwachte vor dem ersten Weckerklingeln. Ein kurzer Blick aus dem Fenster machte sie glücklich. Der erste November zeigte sich von seiner besten Seite. Der Morgenhimmel war wolkenfrei und die Luft kalt und trocken - die besten Voraussetzungen für einen perfekten Umzug. Fünf Jahre hatte sie in der süßen, kleinen Dachgeschosswohnung (ihr Schwalbennest) in Dietrichsdorf gelacht, gekocht und sich wohl gefühlt. „Nichts ist so beständig wie der Wandel“ sagt man und Ewa war bekannt für ihre schnellen Entscheidungen. Sie vermisste ihre lieben Nachbarn schon jetzt, dennoch freute sie sich auch auf die schöne, moderne Wohnung in Russee. Diese brachte viele Verbesserungen mit sich...vor allem der verkürzte Weg zur Arbeitsstelle (...jeder der täglich zur Rushhour die B76 oder die Werftstraße befährt, weis genau wovon ich schreibe). Nun klingelte es an der Tür, und die Umzugshelfer betraten die Wohnung mit einem freundlichen „Moin“. Es wurde ein sehr anstrengender Tag und als Ewa am Abend in ihrer neuen Wohnung ins Bett fiel, schlief sie sofort ein und träumte von einem Einhorn, das auf einer Blumenwiese spielte.
Die dunklen, nasskalten Novembertage vergingen wie im Flug und Ewa hatte Freunde zum Adventskaffee eingeladen. Gabi, die „Fee der feinen Garne“ schenkte Ewa zum Einzug ein Wolllesezeichen (oh, nein denkt ihr nun, jetzt wird es ja so richtig langweilig, aber weit gefehlt!). Milli Lesemaus bestand aus liebevoll verhäkeltem braun-rosa Baumwollgarn und sah wirklich bezaubernd aus. In dem Moment der Freude über dieses tolle Geschenk gingen in Russee die Lichter der zahlreichen Weihnachtsbeleuchtungen an, und Milli Lesemaus erhielt von nun an, jeden Tag, ein Stückchen mehr Lebensenergie mit einer täglich wachsenden Seele.
Willi, seines Zeichens „Schnellste und coolste Maus der Rendsburger Landstraße“ war gelangweilt. Nix aufregendes geschah in seiner Umgebung. Echt öde. Seitdem die Coronapandemie das Land befallen hat, gab es keine Veranstaltungen mehr. Sein geliebtes Kindersommerfest auf dem Gelände des Schützenvereins oder das superschöne Laterne laufen der Feuerwehr vielen einfach aus. Echt blöd. Andere Mäuseriche in seinem Alter konnten längst ein schickes Heim und eine Familie ihr Eigen nennen, doch er wollte sich nicht für ein Mäusemädchen entscheiden. Er lebte lieber in den Tag hinein … Stress war für die Anderen da. Willi Willowitz und sonst Keiner. Punkt.
Nun, Ewa hatte sich gut in der neuen Wohnung eingelebt. Ihren Kindern (ohne deren Hilfe der Umzug nicht möglich gewesen wäre) hatte sie versprochen, in ihrem neuen Heim nicht zu rauchen. So ging sie halt hinaus auf ihre Terrasse, oft vergaß sie die Tür zum Wohnzimmer zu schließen. Diesen offenen Spalt nutzte der gelangweilte, herumstreunende Willi um sich einmal in der Welt der Menschen umzusehen. „Oh, hier gab es ja Mandelplätzchen und Zimtsterne!“. Da konnte er nicht anders als zuzugreifen. Stand ja kein Preis dran. „Hallo“ erklang ein sehr leises Piepsen, „was machst Du da?“ Willi war verwirrt. Niemand war zu sehen. Na gut, Vorsicht ist besser als Nachsicht und schnell lief er aus der Wohnung in das schützende Gebüsch.
Am nächsten Tag kam Willi wieder an der Wohnung vorbei, und die Terrassentür war offen. „Ach“ dachte er, „vielleicht gibt es ja wieder Plätzchen“. Schnell in die Wohnung gehuscht, und sofort stieg ihm der Duft von frisch gebackenen Süßigkeiten in die Nase. „Hallo“ piepste da plötzlich eine liebliche Stimme. „ich brauche dringend deine Hilfe“. „Hilf dir selbst, sonst hilft dir keiner“ hat meine Mutter immer gesagt und in diesem Moment schloss Ewa die Tür und, oh Schreck!, Willi konnte nicht mehr auf die Terrasse fliehen ... und meine Ewa sagt immer: “Kleine Sünden bestraft der liebe Gott sofort“, und ein süßes Kichern war zu hören. Tja, was sollte Willi nun tun? Er beschloss, erst einmal von den Schmalzplätzchen zu naschen, und dann wollte er wissen, wem diese bezaubernde Stimme gehörte. Vielleicht würde er es dann doch einmal mit helfen versuchen, so ganz unverbindlich aus der Langeweile heraus. „Hallo, schwarze Maus, mein Name ist Milli Lesemaus, ich sitze hier im Blumentopf und komme nicht mehr alleine heraus!.“ „Mein Name ist Willi, und ich habe noch nie von einer Maus gehört, die es nicht schafft aus einem Blumentopf heraus zu hüpfen!“. Er sah in die Richtung, aus der die Stimme kam und das lag eine Wollmaus im Blumentopf, aber sonst war niemand zu sehen. "Nun komm schon und hilf mir" bat Milli noch einmal und Willi lief zu ihr. "Ewas Enkelin Juna spielt immer mit mir und hat mich hier einfach vergessen. Bitte lege mich in das Kinderbuch zurück. Es liegt dort im Puppenbett." Schnell hatte Willi diesen Job erledigt. Milli bedankte sich, doch Willi hörte gar nicht richtig zu. Er hatte die Frühstücksreste von Ewa entdeckt und sich darüber her gemacht ... lecker!. Nun, er wurde sehr müde, und er schlief neben Milli ein. So fanden sie zueinander.
Russee rüstete sich für das Weihnachtsfest. Ewa freute sich sehr über die festlichen Lichter und die beleuchteten Figuren. Es schien ihr als ob jeder Bewohner dieses Stadtteils ein Zeichen der Hoffnung setzten wollte. .. unter dem Motto: Leute gebt nicht auf, gemeinsam sind wir stark, zusammen gegen Corona“.
Je mehr Lichter erstahlten, um so mehr Lebensenergie erhielt Milli. Inzwischen hatte sie schon genug Kraft, um alleine zu laufen. Willi besuchte sie an jedem Tag, denn sie hatten sich immer viel zu erzählen. Drei Tage vor Weihnachten begann es zu schneien ... plötzlich entstand direkt vor der Haustür ein Winterwonderland. Die Schneedecke war geschlossen, und Ewa stellte ein Vogelfutterhaus auf. Täglich nahmen eine Amsel, ein Rotkehlchen und eine Blaumeise die Apfel- und Körnergabe an.
Nun, die Fußspuren im Schnee konnte Ewa erkennen, und sie sah auch, dass eine davon immer in ihr Wohnzimmer ging. Google bestätigte ihren Verdacht. Da kam sie eine Maus besuchen. Das fand Ewa gar nicht so gut, aber es erklärte das Verschwinden etlicher Köstlichkeiten.
Am Weihnachtsabend legte sich Ewa auf die Lauer … und tatsächlich: eine kleine, schwarze Maus betrat ihr Wohnzimmer und lief auf den Puppenwagen zu. Wie frech war das denn? Jetzt ist aber Schluß mit Lustig. Die Maus muß raus aus dem Haus. In diesem Moment klingelte der echte Weihnachtsmann an Ewas Tür. Die beiden waren seit Jahren befreundet und sie trafen sich regelmäßig am heiligen Abend. „Ho, ho,ho!“ rief er, als er die Wohnung betrat „Ewamaus du siehst ja wieder bezaubernd aus, nur etwas blass um die Nase. Ist etwas passiert?“ „Ja, ich habe eine Maus in der Wohnung, und das finde ich nicht so gut.“
Ewa zeigte auf das Puppenbett. „Na dann wollen wir einmal nachsehen“ sagte Santa, und tatsächlich erblickte er die beiden Mäuse verängstigt und Arm in Arm hinter einer Puppe. „Hallo ihr zwei, was macht ihr denn hier, und warum habt ihr solche Angst. Ich bin doch der Weihnachtsmann.“ Da kamen die beiden aus ihrem Versteck und erzählten ihre Geschichte. Santa übersetzte alles für Ewa, die nun sehr überrascht war. Die gute Frau öffnete ihr Herz für die beiden Mäuse und sie durften, von nun an, solange bleiben wie sie wollten. Milli bat schnell noch um einen Wunsch und Santa gewährte ihn. Wenn nach Weihnachten die Lichter wieder in den Kartons verschwanden, würde sie am Leben bleiben. So wie sie jetzt war und wie Willi sie liebte ... und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute zusammen in Ewas hübscher, kleiner Wohnung in Russee.
Alle Rechte vorbehalten - (C) by Ellen Scheel 2020
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Diese Geschichte stammt aus dem Buch
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Dabei geht es in rasantem Tempo durch alle möglichen Zeiten und Schauplätze: Wir besuchen Neptuns Reich, eine einfache Firmenkantine oder geheime Ritualplätze längst verstorbener Wesen. Oder wir befinden uns zwischen randalierenden Geistern verstorbener Seeleute auf einem Campingplatz, bei einem wilden Flugrennen feierlustiger Hexen, oder auf einer verwunschenen Burg im hohen Norden ... Oder im Second Hand Laden, gleich um die Ecke.
13 moderne Märchen, zum Schmunzeln und mit augenzwinkernder Moral.