Martin Gregor-Ax
Die späte Landung der Santa Maria
"Oh, my God!", rief der Fremde. Er zuckte zusammen, hob einen Arm vor seine Augen und blieb wie angewurzelt in der Tür stehen, offensichtlich blendete ihn das grelle Neonlicht über unseren Schreibtischen.
"Oh, my God!", rief er aus. Seine Stimme und das Bild, das wir sahen in diesem Moment, werde ich niemals vergessen. Weil die Tür offen blieb, drangen plötzlich auch die Nacht und der Sturm in unser Kontor herein. Eine Orkanböe pfiff am Haus entlang, eine Woge eiskalter Luft peitschte durch die Tür, als wolle sie den Fremden endgültig über die Schwelle schieben, ein Schauer von Regentropfen landete auf dem Steinboden vor unserem Tresen.
Gleichzeitig zuckte ein Blitz durch die Nacht, so dass wir den Besucher als Silhouette im Gegenlicht stehen sahen: eine schwarze, massige Gestalt, unförmig breit, mit klobigen Füßen und einem Wulst auf dem Kopf, einem Wulst mit spitzen Ecken - fast so, als habe die Gestalt Hörner. Wie ein Außerirdischer sah er aus. Oder wie ...
"My God!", sagte der Fremde noch einmal. Obwohl er Englisch mit einem näselnden, schwer verständlichen Akzent sprach, kamen diese Worte klar bei uns an. Wir waren aufgesprungen, Hannes und ich, Champagner-Gläser noch in der Hand, die Uhr über der Tür zeigte sechs Minuten nach Mitternacht. Für gewöhnlich bin ich nicht abergläubisch, aber in diesem Moment hatte ich doch das Gefühl, als sei mein Herz stehen geblieben. Und durch mein leeres Hirn flüsterte eine Stimme mir zu: Dass er Gott anruft, ist bemerkenswert. Er sieht ja aus wie das Gegenteil - wie der Teufel!
Um es vorweg zu nehmen: Dieser Fremde war nicht der Teufel. Jedenfalls glaube ich das nicht. Wobei ... - ich weiß, dass ich mir auch dabei nicht sicher sein kann. Sicher ist nur, dass dieser Fremde das seltsamste Wesen war, dem ich in meinen bald dreißig Lebensjahren begegnet bin. Und dass mit seinem Erscheinen die seltsamste Nacht begann, die ich jemals erlebt habe.
Ich werde euch alles erzählen - genau so, wie es geschehen ist, damit ihr euch selbst ein Bild machen könnt. Und damit ihr versteht, was wir jetzt brauchen.
Flensburg Juegensbij
Dass wir überhaupt dort saßen in jener Nacht - dort, in unserem Kontor in der Altstadt -, war Zufall. Oder Fügung. Jedenfalls hatte es rein private Gründe. Ron Carter, unser bester Mittelsmann auf Jamaika, hatte an jenem Abend Geburtstag. Und zwei Tage vorher hatte er einen guten Deal für uns ausgehandelt. 800 Hektoliter puren Rum, fertig gebrannt und jederzeit einzuschiffen, zu einem äußerst fairen Preis. Damit konnten wir eine Lücke in unserer Lieferkette schließen. Ein Schnäppchen sei das, ein Notverkauf, hatte Ron gemailt. Und er hatte hinzugefügt, dass er an seinem Geburtstag Champagner ausgeben wolle: Wir sollten eine Buddel kaufen, er würde das Geld überweisen.
Also waren wir beide, Hannes und ich, an jenem Abend noch mal ins Büro gegangen. Wir hatten die Fensterläden geschlossen wegen des Sturms. Dann hatten wir die Computer hochgefahren, hatten uns eingeloggt an den Börsen der Welt, in New York und Chicago, später in Tokio. Wir hatten hier und da geklickt, hatten Aktienkurse verfolgt und Bonds und Futures, und Warentermingeschäfte natürlich. Wir hatten schon mal den Champagner geköpft; Hannes hatte wohl auch auf eigene Rechnung ein paar private Deals abgeschlossen. Vor allem aber hatten wir dieses Gefühl genossen: das Gefühl, dass wir heute - an unseren Rechnern und Bildschirmen - überall dabei sein können, in Augenhöhe mit den Jungs in aller Welt, die das wirklich große Rad drehen.
Kurz vor Mitternacht hatten wir schließlich das Videokonferenzprogramm gestartet, hatten unsere Webcam zurechtgerückt und auf das Bild aus Kingston gewartet, wo Ron bald Feierabend haben musste. Dann hatten wir unsere Gläser in die Kamera gehalten, hatten laut und falsch "Happy Birthday" gesungen, hatten Rons Bild auf den großen Fernsehschirm geschaltet, der unter der Decke hängt, und hatten zugehört, wie er mit scheppernder Internet-Stimme Anekdoten aus der Karibik erzählte.
So saßen wir da, als der Fremde kam in jener eiskalten Sturmnacht: zwei blonde Flensburger Rohstoffhändler, die in Gedanken in der Sonne baden. Hätte der Fremde geklopft in diesem Moment, dann hätten wir mit Fug und Recht antworten können: "Wir sind nicht da!"
Aber er klopfte nicht: Er stieß einfach die Tür auf, plötzlich, ganz wie ein Überfall. Er trat auf die Schwelle, blieb stehen, ließ Regen und Sturm herein. Die eisige Luft trug auch den Geruch der Förde zu uns, jene Mischung aus Tang und Gischt und Brackwasser, die Fernweh und Heimweh zugleich anregt.
"Oh, my God!", rief der Fremde und wartete, bis seine Augen sich halbwegs an das Bürolicht gewöhnt hatten. Dann trat er über die Schwelle, packte die Klinke mit beiden Händen und stemmte sich gegen die Tür, um endlich den Sturm in seine Schranken zu weisen. Als das geschafft war, drehte er sich endgültig zu uns hin und sah uns mit großen Augen an, reglos staunend, fast wie ein Kind vorm Weihnachtsbaum. Nur seine Finger bewegten sich: Sie begannen mechanisch an seiner Kleidung zu hantieren. Und während er langsam seinen klitschnassen Mantel abstreifte, begriffen wir nach und nach, dass nur seine Kleider ihn so unförmig hatten aussehen lassen.
Der Fremde trug eine Art Kutte, einen Umhang aus Baumwollstoff mit einer rissigen öligen Oberfläche, von der das Regenwasser in dicken Fäden auf den Fußboden tropfte. Dieser Mantel reichte bis zu den Waden, war an der Hüfte mit einem Strick gebunden und endete oben in einer weiten Kapuze. Darunter kam ein Hut zum Vorschein, ein kleiner Dreispitz, wie man ihn aus Piratenfilmen kennt. Am Leib trug er eine mit Fell gefütterte Lederweste, einen Pullover aus ungefärbter Wolle, fleckig weiße Hosen aus Segeltuch und Schuhe, die an Reitstiefel hätten erinnern können, wären sie nicht so klobig gewesen. Über der Weste hing ein breiter Gürtel: Darin steckten ein Dolch und zwei vorsintflutliche Pistolen mit riesigen rostigen Schlössern.
Kurz: Auf den zweiten Blick sah der Fremde aus wie ein Seeräuber. Oder wie ein Trapper aus einem uralten Western. Dunkle Haare und ein Vollbart gaben seinem Gesicht etwas Grimmiges. Aber die großen braunen Augen sahen sanft und unschuldig aus. Mit diesen Augen musterte er die Szene in unserem Kontor: den Tresen und die Schreibtische, die Monitore, auf denen Kurstabellen und Börsenticker blinkten, den Fernsehschirm mit den ruckelnden Internet-Bildern, und uns natürlich - Hannes und mich – in unseren Business-Klamotten, die Hemdkragen offen, die Krawatten locker auf Halbmast gesetzt. Wir starrten ihn so fassungslos an wie er uns. Dass er ein Scherz sein könnte, ein Schauspieler, den irgendein Witzbold uns geschickt haben mochte - auf diese Idee kamen wir gar nicht. Viel zu real, und zu unheimlich, war seine Erscheinung.
Nachdem er alles mit den Augen aufgesaugt hatte, setzten seine Füße sich in Bewegung. Langsam, wie in Trance, umkurvte er unseren Tresen, steuerte zwischen Tischen und Stühlen hindurch, fuhr mit ausgestreckter Hand an Monitoren und Tastaturen entlang, ohne etwas zu berühren, blieb unter dem Fernsehschirm stehen und starrte Rons Bild aus Kingston an, das Bild eines schwarzen Mannes mit kantigem Kinn, der ratlos in seine Kamera grinste. "Good-nesch", murmelte der Fremde; es sollte wohl "Goodness!" heißen.
Dann kam er direkt auf mich zu. Er trat nah, ganz nah an mich heran, hob die Hand, griff nach meiner Krawatte und rieb den Seidenstoff zwischen seinen Fingern. Ich sah die faltige Haut seiner Hände - faltig wie die eines alten Mannes. Ich blickte in tiefe dunkle Augen - lebendige Augen, obwohl der Rest seines Gesichtes bleich und starr wirkte wie der Tod. Ich dachte an seine Pistolen - und wagte kaum zu atmen. Am liebsten hätte ich seine Hand beiseitegeschoben, aber ich traute mich nicht. Ich schaffte es nur, mich zu räuspern und sehr leise zu sagen: "Pardon. Äh - sorry!"
Da fuhr der Fremde zusammen, als erwache er aus seiner Trance. Er ließ mich los, sprang zurück und sagte ebenfalls: "Sorry!" - es klang wie "schorrieh".
Flensburg - Nordenhofenenden
Er besann sich, nahm Haltung an wie ein Soldat, zog sogar den Hut vom Kopf - und überschüttete mich mit einer Flut von Wörtern, so schnell und näselnd gesprochen, dass ich fast nichts verstand. Nur "Rum" und "Ship" meinte ich herauszuhören. Und zwei Namen: London und Saint Mary. Jawohl, Saint Mary. "I do not understand", sagte ich langsam und artikuliert. Da nickte der Fremde mit unbewegtem Gesicht. Er setzte den Hut wieder auf, schob die Hand in seinen Gürtel und zog ein mehrfach gefaltetes Stück Papier hervor, das er mir reichte.
Ich nahm das Blatt und begann mechanisch, es auseinander zu falten. Es war dick und holzig und knisterte leise. Das Knistern weckte mich wohl aus meiner Starre - jedenfalls wusste ich jetzt, was ich tun konnte. Ein Mann mit einem Papier: Damit weiß ich doch umzugehen!
Ich winkte also dem Fremden, er möge zurück vor den Tresen gehen, wo er eigentlich hin gehörte. Während er das tat, sagte ich halblaut zu Hannes: "Setz du dich an den Computer, bitte! Schreib Ron eine Mail. Und…" - fügte ich, einer Eingebung folgend, hinzu - "google ein bisschen. Such bitte nach: Saint Mary, Rum, Flensburg."
Dann trat auch ich an den Tresen. Ich sah in das bleiche Gesicht meines Gegenübers, und weil mir nichts Besseres einfiel, fragte ich: "Saint Mary?"
Der Fremde nickte. "Saint Mary", sagte er, beugte sich vor und wiederholte überdeutlich wie jemand, der sich unbedingt in einer fremden Sprache verständlich machen will: "Schanta Marrriiiha!"
Ich nickte ebenfalls. Weil mir noch immer nichts Besseres einfiel, tippte ich mit dem Finger auf meine Brust und sagte: "Sven. Sven Petersen."
Ich zeigte auf Hannes, sagte: "Hannes Hansen." Dann sah ich den Fremden mit fragender Miene an. Er wies auf sich selbst und sagte: "Stone. Oliver Stone."
Ich nickte und wusste nun wirklich nicht weiter. Hannes erlöste mich.
"Tatsächlich", sagte er von hinten: "Da gibt es was."
Ich drehte mich um. Hannes saß am Computer, hatte einen Text auf dem Schirm und sagte sachlich, als lese er ab: "Hier schreibt ein Historiker, ein Heimatforscher, dass es eine alte Legende gibt. Danach war einst ein Segelschiff namens Santa Maria oder Saint Mary mit einer Ladung Rum von London nach Flensburg unterwegs. Um den Ersten Advent 1807 herum sollte das Schiff an der Förde ankommen. Aber Ende November gab es einen schweren Sturm, und die Saint Mary blieb spurlos verschwunden. Der Rum war für die Firma Sörensen bestimmt, die damals in wirtschaftlichen Schwierigkeiten steckte", fuhr Hannes fort, er sprach jetzt schneller, lebendiger. "Weil diese Ladung ausblieb, ging die Firma bankrott, und der letzte Sörensen musste fortan mit seiner Familie im Armenhaus leben."
"Sörensen?", fragte ich. "Der Sörensen?"
"Na klar", sagte Hannes und wies mit dem Kopf Richtung Tür. Ich wusste genau, was er meinte. Denn draußen, neben der Tür zum Büro, hängt seit langem eine Plakette, deren Text jeder Mitarbeiter unserer Firma auswendig kennt. "Auf diesem Grundstück", lautet die Inschrift, "stand einst das Lager- und Kontorgebäude des legendären Handelshauses Sörensen, das im 18. Jahrhundert den guten Ruf der Flensburger Rum-Händler mit begründet hat."
"November 1807", sagte ich nachdenklich. "Das war vor genau zweihundert Jahren." "Moment", sprang Hannes ein und sah zu mir hoch. Jetzt leuchteten seine Augen, er kam sichtlich in Fahrt. "1807 - das war die napoleonische Zeit. Die Zeit der Kontinentalsperre. Deshalb war Sörensen in Schwierigkeiten! Wegen der Seeblockade kam Nachschub von den dänischen Karibikinseln nicht wie gewohnt. Deshalb hat er schon damals versucht, Jamaika-Rum aus England zu importieren."
"Das heißt", fiel ich ihm ins Wort: "Dieser Rum war keine gewöhnliche Ladung. Es ging um Schmuggel. Die Santa Maria war ein Blockadebrecher!"
"Genau!", sagte Hannes. "Und Sörensen war ein Zocker. Er hat alles auf eine Karte gesetzt. Und verloren."
"Oder er war verzweifelt", warf ich ein.
"Ja", sagte Hannes. "Oder verzweifelt."
Dann wandte er sich seinem Bildschirm zu und las wieder vor. "Hier schreibt der Autor: Wir wissen nicht, ob das nur Legende ist oder ob es wirklich geschah. Die Akten der Firma Sörensen sind verschollen. Ein passendes Wrack hat man nie geortet. Und die Schiffsregister sind unklar."
"Wenn die Santa Maria ein Schmugglerschiff war, hat man vielleicht ihre Spur in den Registern verwischt", murmelte ich und fragte mich, wie mein Geist auf solche Ideen kam.
"Hm", sagte Hannes und las weiter. "Hier steht: Nur das Register von Bournemouth kennt in jener Zeit ein Schiff mit Namen Saint Mary, einen kleinen Schoner. Aber Fachleute meinen, dass er zu klein gewesen wäre, um im Spätherbst die stürmische Fahrt durch Kattegatt und Skagerrak zu wagen. Diese Saint Mary ... ", las Hannes, und seine Stimme klang plötzlich tonlos, gepresst: "Diese Saint Mary - steht hier - wird 1806 zuletzt erwähnt. Damals fuhr sie unter einem Kapitän Robert Dunbarr, und der Erste Offizier hieß ..."
"Na - wie?", fragte ich ungeduldig, denn ich ahnte noch nichts.
"Der Erste Offizier", sagte Hannes leise, aber so klar, dass es den ganzen Raum füllte, "hieß Oliver Stone."
"Yes, Sir", sagte der Mann an meinem Tresen, und ich fuhr hoch. Dass er da stand, hatte ich völlig vergessen. Ich drehte mich um zu diesem Fremden mit den Pistolen im Gürtel. Seine Augen waren nicht mehr die eines Kindes. Jetzt waren sie leicht zusammengekniffen, in ihnen lag eine Mischung aus Ruhe und eisernem Willen. Er sah aus wie ein Mann, der warten, lange warten kann - der aber fest entschlossen ist, niemals aufzugeben.
Flensburg Hafen
Ich schluckte. Ich suchte vergeblich in meinem Kopf nach einem Gedanken, einer Idee. Dann spürte ich, dass meine Hände zitterten - die Hände, die immer noch das Papier festhielten. Ach ja das Papier, es war ein Halt, ein Funke Hoffnung. Ich hob die Hände und versuchte endlich, die Schrift zu entziffern. Keine Chance! Das Blatt war vergilbt und handbeschrieben in der nachlässigen Art eines Menschen, der tagaus, tagein das Gleiche schreibt. Nur weiter unten waren drei Zeilen eingerückt und in Schönschrift gefasst. Das mussten die wichtigen Worte sein. Sie lauteten:
75 barrels
Arthur's Court, Jamaica
Premium.
Hannes stand jetzt neben mir. "Was ist das?", fragte er und sah auf das Blatt.
"Der Lieferschein", sagte ich so leise, als kämen die Worte aus einer fremden Galaxis. Die Frage, was nun zu tun sei, wurde uns abgenommen. Denn in diesem Moment sprang die Tür wieder auf, und mit einem neuen Schwall kalter Böen purzelte ein Männchen in gelbem Ölzeug herein, das sofort zu reden begann. "lch schwöre euch, ich bin nüchtern, ich hab' nichts getrunken!", rief der Gelbe. "Was ich eben am Hafen erlebt hab', ist keine Fata Morgana. Das müsst ihr euch ansehen!"
Immerhin, diesen Mann kannten wir. Es war Asmus Gerkens, das Faktotum unserer Firma. Asmus war lange Zeit Prokurist, jetzt ist er Rentner, aber er kommt immer noch ein- bis zweimal die Woche zu uns ins Kontor, um ein Schwätzchen zu halten. Denn er liebt den Handel und die Seefahrt und natürlich den Rum, mit dem wir unser Geld verdienen.
Asmus platzte also herein und plapperte drauflos. Dann hielt er inne: Er hatte den Fremden entdeckt, der ihn um einen Kopf überragte. "Mein Gott!", sagte nun Asmus. "Ist der echt?"
"Vielleicht", antwortete ich nur und würgte mit einem Wink das Gespräch ab. Denn jetzt wusste ich endlich, was wir tun konnten. Ich sah den Fremden an, sagte: "Go" und "Ship". Er schien zu verstehen. Er nahm mir das vergilbte Papier ab und hob seinen Mantel vom Fußboden auf. Ich holte meine Regenjacke vom Haken, warf Hannes seine zu - dann gingen wir runter zum Hafen, Asmus, der Fremde, Hannes und ich. Der Regen hatte aufgehört, aber der Sturm wütete noch immer mit Kraft.
Wir stemmten uns gegen die Böen, stapften durch die Gassen der Altstadt, bogen um die letzte Ecke am Wasser. Und tatsächlich: An der Schiffbrücke, gleich oberhalb der Museumswerft, hatte in dieser Orkannacht ein Segelschiff festgemacht, ein hölzerner Zweimaster, kurz und breit mit rundem Steven, der neben den Museumsschiffen kaum auffiel. Der dunkel getünchte Rumpf schien gut gepflegt zu sein - soweit wir das erkennen konnten -, die Takelage allerdings wirkte unaufgeräumt. Lose Taue schlugen an Masten und Spieren, einige Segel waren nur provisorisch aufgerollt, als habe die Crew in großer Eile angelegt.
Kräftige Männer mit durchnässten Hosen und nackten Oberkörpern hatten Bohlen vom Deck auf die Kaimauer gelegt. Über diese Bohlen rollten sie Fässer an Land, mittelgroße Fässer aus Eichenholz, offenbar.
Trotz des Sturms, der Nässe, der Dunkelheit schien die Arbeit gut voranzugehen. Auf dem Kopfsteinpflaster, wo sonst die Autos der Pendler und Touristen parken, standen jetzt Fässer in langen Reihen, schnurgerade ausgerichtet wie Truppen bei einer Parade. Mehr als hundert, schätzte ich, waren es schon, und noch ließ der Nachschub von Deck nicht nach.
Hannes und Asmus zog es zu den Fässern, der Fremde folgte ihnen gemessenen Schritts. Ich zwang mich, nichts mehr zu denken oder zu fühlen, nur noch zu handeln. Ich fand eine Hausecke, hinter der es windgeschützt war, zog mein Handy aus der Tasche und klingelte unseren Chef aus dem Bett. Dann Hinnerk, unseren Spediteur; er sollte die Fässer vom Parkplatz holen. Und zuletzt OIe Björnsen. OIe ist Lebensmittelchemiker und einer der besten Rum-Tester weit und breit.
Als ich zurück war auf der Pier, kam Hannes schon auf mich zu, gefolgt von dem Fremden, der sich Stone nannte. Die Männer seien fertig, sagte Hannes so sachlich, als sei es das Gewöhnlichste auf der Welt. Einhundertfünfzig Fässer habe er gezählt, alle dicht und in gutem Zustand, soweit er es beurteilen könne.
"Und jedes fasst ein halbes Barrel", ergänzte ich gedankenverloren.
"Keine Ahnung", sagte Hannes. "Kann sein."
Dem Fremden war das Gerede offensichtlich zu viel. Er trat auf mich zu, sagte "one-hundred-fifty" und ein Wort, das "perfect" heißen konnte. Dann hielt er mir wieder das vergilbte Papier unter die Nase und sagte klar verständlich: "Sign! Here."
Ich wisse nicht recht, stammelte ich auf Englisch, unser Chef werde gleich da sein. Der könne dann unterschreiben.
Da blitzte ein Funkeln auf in den Augen des Fremden. Er kam noch näher, packte mich an meiner Jacke, zog mich so dicht an sich heran, dass unsere Nasenspitzen sich fast berührten. Er bohrte seinen Blick in meine Augen und zischte jetzt ohne jeden Akzent: "You sign. Now!"
Ich musste wieder an seine Pistolen denken. Das Herz rutschte mir in die Hose, ich wollte unterschreiben, aber das ging nicht so schnell. Ich fand keinen Stift, Hannes auch nicht - es dauerte eine halbe Ewigkeit, bis Asmus dazukam und einen Bleistiftstummel aus seinem Ölzeug fingerte. Mit fahrigen Händen setzte ich schließlich eine kaum sichtbare Unterschrift auf das Papier.
Da endlich entspannte sich der Fremde. Zum ersten Mal huschte ein Lächeln über sein Gesicht. Er steckt das Papier ein, hob die Hand zum Gruß an seine Kapuze, nickte uns allen einzeln zu. Er eilte hinüber zum Schiff und rief ein Kommando, auf das die Männer gewartet hatten. Sie warfen die Leinen los und hissten ein Segel, ein einzelnes winziges Vorsegel, aber bei diesem Sturm war es groß genug, um den Bug vom Kai weg zu drücken und die Santa Maria hinaus auf die Förde zu ziehen, wo sie in der Nacht verschwand. Am Rumpf, das erkannten wir noch, war der Name übermalt. Eine Flagge führte sie nicht. Es war 1:57 Uhr, als sie ablegte.
Später in dieser Nacht standen wir alle in OIe Björnsens Labor um ein aufgebrochenes Fass herum. Dieses eine Fass hatten wir in den Kombi des Chefs gehoben und die Stufen zum Labor hochgewuchtet. OIe hatte den Inhalt als Erster probiert. Zunächst hatte er sich geschüttelt und die Nase gerümpft - aber dann hatte er mit der Zunge geschnalzt und verklärt die Augen verdreht. Er hatte eine Portion aus dem Fass gefiltert, sie mit klarem Wasser verdünnt und fünf Gläser vollgeschenkt.
Dann hatten wir alle den wildesten und zugleich edelsten Rum gekostet, den wir uns je hätten vorstellen können. Er brannte wie Feuer auf der Zunge, aber am Gaumen erweckte er eine Welt von Aromen, eine Mischung aus dem herben Duft von Eichenrauch, gepaart mit dem süßlichen Flair tropischer Früchte. Als ich die Augen schloss und den Trank durch meine Kehle rinnen ließ, stiegen wie aus ferner Erinnerung Bilder in mir auf. Ich sah Zuckerrohr auf kleinen Feldern zwischen Palmen sich wiegen, sah Männer wie Ron mit handbetriebenen Pressen Saft aus dem Zuckerrohr quetschen, sah Fässer voll Rum im Bauch eines Ozeanseglers in rollender Dünung reifen.
Auch die anderen blickten sinnend in ihre Gläser. Es war Hannes, der schließlich die Frage aller Fragen formulierte: "Und? Wie erklären wir uns das Ganze?"
"Tja", sagte der Chef und nickte bedächtig. "Asmus, du bist der Spökenkieker. Was denkst du?"
Asmus benetzte noch einmal die Lippen, schloss die Augen, holte tief Luft. "Na ja", sagte er langsam. "Die ersten Flensburger Rum-Händler damals, das waren besondere Leute, sagt man. Die haben manch kleinen Gastwirt vielleicht über den Tisch gezogen, aber untereinander waren sie eine verschworene Gemeinschaft. Da galt ein Handschlag für Generationen, und niemand hätte sich je um ein Gramm verrechnet. Ihre Schiffer und Fuhrleute, sagte man damals, waren aus dem gleichen Holz: knorrig, schweigsam und zuverlässig bis in den Tod."
Fregatte Eckernfoerde
Asmus legte eine Pause ein. "Nun stell' ich mir vor", fuhr er fort, "da hat so ein Käpten eine Ladung Rum von einer Qualität, für die er sein Leben geben würde. Die soll nach Flensburg, ganz schnell, noch vor dem Winter. Was tun? Nach Altona segeln? Unmöglich, die Franzosen riegeln die EIbe ab. Nach Husum? Viel zu gefährlich, die wenigen Fahrrinnen ins Wattenmeer sind leicht zu bewachen. Also macht der Käpten sich gerade und sagt seinem Reeder: Wir segeln um Skagen, wir schaffen das. Sein Erster Offizier steht dabei und nickt, obwohl ihr Schiff den nördlichen Stürmen in dieser Jahreszeit vielleicht nicht gewachsen ist."
Noch eine Pause, noch ein Schluck. "Dann kommt der Sturm, so ein Orkan wie heute Nacht. Der Käpten steht an Deck und spürt, dass sein Schiff mit Mann und Maus verloren ist. Das geht ihm bannig gegen den Strich. Einfach absaufen und verrecken: Für einen echten Rum-Schiffer darf das kein Grund sein, ein Wort zu brechen! Also wird der Käpten in dieser Nacht fluchen und beten. Er wird alle dunklen und alle hellen Mächte anrufen. Und er schwört, dass seine Seele erst ruhen wird, wenn er die Chance erhält, seine Ladung doch noch abzuliefern. Egal wie, egal wann - Hauptsache liefern."
Wir schwiegen betreten und angespannt, viele schwere Sekunden lang.
"Ha", sagte OIe, der Chemiker, und brach schließlich die Stille: "Gut, dass du geantwortet hast, Asmus. Ich hätte euch was erzählt von Albert Einstein und Stephen Hawking, von Relativitätstheorie und der gekrümmten Raumzeit, von exotischer Materie und Wurmlöchern, die Zeitsprünge möglich machen, rein theoretisch, und ... "
"Quatsch! Wer will so was hören", sagte der Chef und sah Ole strafend an. Aber er tat das mit seinem Pokergesicht, bei dem man nie weiß, ob er Ernst machen will oder Spaß. Wieder schwiegen wir, aber diesmal nur kurz. Dann prusteten alle los vor Lachen, endlich löste sich die ganze Spannung. Wir haben noch länger da gestanden in Oles Labor und noch manchen Schluck Rum gekostet in jener Nacht, aber geredet haben wir nicht mehr viel. Jeder hing seinen Gedanken nach und fragte sich wohl, ob die Sache wirklich geschehen war - oder ob alles doch nur ein Traum sein konnte.
Es muss aber geschehen sein. Denn seit jener Nacht stehen in Hinnerks Lagerhalle am Stadtrand, in der hintersten, dunkelsten Ecke, hundertneunundvierzig Fässer mit feinstem altem Jamaika-Rum. Was wir damit tun können, ist klar: Wir werden ihn nicht verschneiden, sondern nur vorsichtig filtern und auf Trinkstärke verdünnen. Wir werden Flaschen und Etiketten entwerfen lassen, die nach "Fluch der Karibik" aussehen. Dann werden wir ihn an Liebhaber verkaufen, als limitierte Sonderausgabe zu einem horrenden Preis.
Das Problem ist nur, dass man uns fragen wird, woher wir diesen Rum haben. Der Zoll wird fragen, das Finanzamt, die Lebensmittelhygiene. Und wenn wir die Wahrheit sagen - ich weiß nicht, was sie dann mit uns machen werden.
Deshalb brauchen wir dringend jemanden, der eine Geschichte zu unseren Fässern erfindet. Und der fünfundsiebzig Barrel Rohmaterial in unsere Bücher schmuggelt. Wer einen solchen Experten kennt, möge sich bitte melden. Gute Tipps belohnen wir gern mit einem exquisiten Fässchen Rum.
Alle Rechte vorbehalten - Martin Gregor-Ax 2009
Der Autor: Jahrgang 1959, arbeitet als Journalist in Hamburg und schreibt nebenher Kurzgeschichten und Erzählungen. Seine Geschichte "Jahrhundertspiegel" erschien in der Anthologie "Zwischen Sieg und Niederlage" (Berlin 2008)
Aus der Geschichtensammlung "Wenn die Biiken brennen". Mit freundlicher Genehmigung des Verlag71 aus Plön.
Das Buch ist zur Zeit leider vergriffen, könnte aber Ende 2015 neu aufgelegt werden. Bestellungen direkt über den Verlag:
Photos
Chromatographien: Photoglob Zürich, um 1895. Gemeinfrei
Fregatte Eckernförde. J. Prömmel 1849
Published by Ostufer.Net 2015 / 2024